Antwort von Prof. Dr. Norman Paech & Mahmut Sakar (stellvertr. Vorsitzender MAF-DAD e.V.) an den Außenminister
Am 05.02.2016 antworteten Prof. Dr. Norman Paech, Neubertstr. 24, 22087 Hamburg und Mahmut Sakar, stellv. Vorsitzender MAF-DAD e.V., Verein für Demokratie & Internationales Recht, Hansaring 82-86, 50670 Köln mit folgenden Brief dem Außenmister
An den
Bundesaußenminister der BRD
Herrn Dr. Frank-Walter Steinmeier
Auswärtiges Amt
11013 Berlin
Hamburg/Köln, 05.02.2016
Ihr Antwortschreiben vom 27.01.2016
208 E Paech-Sakar
Sehr geehrter Herr Bundesaußenminister Steinmeier,
vielen Dank für Ihr Antwortschreiben durch Ihren Referenten Herrn Dr. Thomas Kurz vom 27.01.2016 auf unseren Appell vom 30.12.2015.
Es ist sehr bedauerlich zu lesen und uns vollkommen unverständlich, dass Sie sich der Rechtfertigung der AKP-Regierung unkritisch anschließen und die Sichtweise der türkischen Regierung ohne Einschränkung übernehmen. Sie begründen die Eskalation des Konflikts in kurdischen Gebieten im Südosten der Türkei lediglich mit Angriffen der PKK, die seit einiger Zeit die Strategie verfolge, ihren Kampf in die Städte zu bringen, und dafür zahlreiche junge Menschen missbrauche und die Bevölkerung in Mitleidenschaft ziehe.
Das unfassbare Vorgehen des türkischen Staats gegen die kurdische Zivilbevölkerung mit der angeblichen Strategie der PKK zu erklären, stellt die Realität des dort herrschenden Krieges auf den Kopf und entspricht in keiner Weise den Tatsachen, wie sie jetzt auch in der deutschen Presse anerkannt werden. An dieser Stelle müssen wir Ihnen entschieden widersprechen.
Denn diese Sichtweise widerspricht eindeutig dem Ablauf der Ereignisse seit Aufnahme der militärischen Angriffe durch die türkische Armee seit Sommer 2015 und verkennt vollkommen den politischen Hintergrund, der zu dieser katastrophalen Kehrtwende der AKP-Regierung vom politischen Dialog mit den Kurden zu ihrer militärischen Bekämpfung geführt hat.
Durch den Einzug der HDP (Demokratische Partei der Völker) im Juni 2015 in das türkische Parlament wurde das zentrale Ziel Tayip Recep Erdogans, die Einführung eines Präsidialsystems, verhindert. Danach erklärte Erdogan den Friedensprozess für beendet und setzte auf einen erneuten Krieg. Es muss wohl immer wieder daran erinnert werden, dass nicht die Kurden und Kurdinnen den Friedensprozess aufgekündigt haben, sondern die AKP-Regierung. Sie war es, die mit den militärischen Aktionen im kurdischen Südosten der Türkei wieder begann. Erdogan erklärte die HDP und all ihre Wähler und Wählerinnen zu „Unterstützern von Terroristen“. Er begünstigte durch seine verbale Attacken und Drohungen gegenüber der HDP sowie die permanente Verbreitung seiner Drohungen in den regierungsnahen Medien zahlreiche Angriffe auf die Parteibüros der HDP durch aufgeheizte Menschenmengen. Dabei entstanden regelrechte Lynchtruppen, die Parteibüros in Brand setzten und zerstörten und große Personen- und Sachschäden anrichteten. Die türkische Polizei und Armee terrorisieren seitdem durch verhängte Ausgangssperren die Zivilbevölkerung. Bis heute wurden in 7 Städten und in 20 dazugehörigen Kreisstädten 56 Mal Ausgangssperren verhängt. Die Dauer der Ausgangssperren in allen Städten und Kreisstädten zusammengerechnet ergibt insgesamt 344 Tage. Die davon betroffenen ca. 1,5 Millionen Menschen sind seitdem abgeriegelt und können ihre grundlegenden Bedürfnisse nicht befriedigen. Durch Panzer und Kampfhubschrauber wurden ganze Wohngebiete beschossen, in Schutt und Asche gelegt. Dabei kamen bis heute 200 Zivilisten ums Leben. Zurück bleiben zerstörte Wohngebiete und leerstehende Wohnhäuser, eine wahre Trümmerlandschaft. Das Vorgehen des türkischen Staats in den von Kurden und Kurdinnen bewohnten Städten und Provinzstädten zielt auf eine kollektive Bestrafung der kurdischen Bevölkerung für die Unterstützung der HDP und hat eine Massenflucht von Hunderttausenden von Menschen ausgelöst. In ihrer Hoffnungs- und Perspektivlosigkeit in den türkischen Metropolen werden sie sich sicherlich auch auf den Weg nach Europa unter anderem nach Deutschland begeben.
Die mit den Ausgangssperren verhängten Blockaden von ganzen Städten dauern bis heute noch in den Kreisstädten von Cizre, Silopi und Sur an. In Cizre hat sich die Lage dramatisch zugespitzt. Mehr als 20 Verletzte sind seit über 10 Tagen in einem Keller eingeschlossen. Seit dem 30.01.2016 ist der telefonische Kontakt der HDP zu diesen Menschen abgebrochen. Nur soviel ist bekannt geworden, dass bis dahin 7 Menschen an ihren Verletzungen starben oder verdursteten.
Am 19.01.2016 wurde von dem Gouverneur von Silopi nach 36 Tagen Ausgangssperre die Aufhebung dieser von 5.00 bis 18.00 Uhr verkündet. Auch bei der offiziellen Aufhebung der Ausgangssperren jedoch wirkt die faktische Blockierung durch türkische Sicherheitskräfte weiter.
In einem Punkt stimmen wir Ihnen allerdings zu. Die Türkei hat die Pflicht, ihre Bürger zu schützen. Dieser Pflicht kommt sie jedoch nur unzureichend nach. Bei einer Wahlveranstaltung der HDP im Juni 2015 in Diyarbekir ist es zu zwei Explosionen gekommen. Dabei starben 5 Menschen und mehr als 400 Menschen wurden verletzt. Bei einem Bombenanschlag im Juli 2015 in Suruc starben 33 junge Menschen, die über die syrische Grenze gehen und beim Wiederaufbau von Kobani mithelfen wollten. Am 10.10.2015 wurden zwei Selbstmordattentate in der Menschenmenge auf einer Friedensdemonstration von HDP und weiteren linken Parteien sowie Gewerkschaften in Ankara verübt. Dabei kamen 100 Zivilisten ums Lebens und hunderte von Menschen wurden verletzt. Diese Anschläge sollen angeblich von IS-Anhängern verübt worden sein. Der türkische Staat hat diese Anschläge nicht verhindert, eine Aufklärung der wahren Täterschaft und der Hintergründe ist bis heute ebenfalls ausgeblieben.
Durch Angriffe der Polizei und Armee auf Demonstrationen und Protestkundgebungen starben weitere 99 Zivilisten. Innerhalb des letzten Jahres kamen durch die Anschläge in Diyarbekir, Suruc, Ankara auf Demonstrationen und Protestkundgebungen sowie durch das staatliche Vorgehen während der Ausgangssperren in kurdischen Gebieten 447 Zivilisten ums Leben, davon waren 81 Kinder und 78 Frauen. Sollte es Opfer unter der Zivilbevölkerung durch kurdische Einheiten geben, die sich zur Verteidigung in die Städte zurückgezogen haben, so müssen diese Fälle natürlich ebenfalls aufgeklärt werden.
Ihnen wird nicht verborgen geblieben sein – denn darüber hat auch die deutsche Presse ausführlich berichtet -, dass in der gesamten Türkei elementare Bürger- und Grundrechte wie Meinungs-, Presse- und Wissenschaftsfreiheit, Versammlungs- und Demonstrationsrecht gravierend eingeschränkt werden. Demokratische Versammlungen und Kundgebungen werden durch Einsatz von Gas immer wieder erstickt. Die Unabhängigkeit der Justiz ist durch die Anbindung an die Regierung ausgehöhlt. Regierungskritische Journalisten und Journalistinnen sowie Vertreter und Vertreterinnen der Medien sind Druck und Einschüchterungen ausgesetzt und es drohen ihnen lebenslange Haftstrafen für ihre Berichterstattung. Es werden Straf- und Disziplinarverfahren gegen Wissenschaftler und Wissenschaftlerinnen wegen ihrer Unterstützung für einen Friedensappell an die Regierung eröffnet. Sie werden unter Generalverdacht gestellt, „eine Terrororganisationen zu unterstützen“ und entlassen.
Die Bundesregierung macht sich die türkische Sicht auf den Konflikt vollkommen unkritisch zu eigen. Mit ihrem öffentlichen Schweigen zu den Taten der AKP-Regierung, zu den eskalierenden Grundrecht- und Menschenrechtsverletzungen macht sich die Bundesregierung mitverantwortlich. Ja, sie bestärkt die AKP-Regierung in ihrem Vorgehen gegen Oppositionelle und Kurden und trägt damit nur zur Eskalation der Gewalt bei, anstatt zur Beendigung eines Krieges in einem befreundeten NATO-Staat. Ist die Politik der Bundesregierung wirklich so zynisch, wie sie Ihr Kollege Bundesinnenminister de Maizière in der Öffentlichkeit vertritt, dass ihr Schweigen der Preis dafür ist, dass die türkische Regierung die syrischen Flüchtlinge von der deutschen Grenze fernhält?
Der türkisch-kurdische Konflikt lässt sich lediglich mit Verhandlungen lösen. Dazu gehört aber auch, dass die europäischen Regierungen endlich aufhören, die PKK als terroristische Vereinigung zu stigmatisieren und sich damit einen Vorwand zu schaffen, diese wichtige und derzeit einzige repräsentative Organisation der kurdischen Bewegung aus dem politischen Prozess auszuschließen. Die Forderung nach Aufhebung des Terrorvorwurfs wird schon lange in der Öffentlichkeit der Türkei wie auch der Bundesrepublik erhoben. Die türkische Geschichte zeigt, dass der Einsatz von Gewalt und Vertreibung weitere zornige Generationen von jungen Menschen auf beiden Zeiten erzeugen wird und die Lösung des Konflikts in weiter Ferne rücken lässt.
Daher können wir Sie nur noch einmal dringend auffordern, Ihre unkritische Haltung gegenüber der AKP-Regierung zu überdenken, aktiv auf die Wiederaufnahme von Friedensverhandlungen hinzuwirken und die APK – Regierung nachdrücklich aufzufordern, das repressive Vorgehen gegen ihre kurdische Bevölkerung sofort aufzugeben und den friedlichen Weg einzuschlagen. Die deutsche Regierung hat viele politische Möglichkeiten, einer solchen Forderung Nachdruck zu verleihen. Es geht immerhin um Frieden und die Rettung von Menschenleben.
Mit freundlichen Grüßen
Norman Paech und Mahmut Shakar